FLANEUR - Magazin

FLANEUR – Magazin

FLANEUR ist ein stattliches Heft voll Bildern und Texten. Es widmet sich immer einer Strasse in einer Stadt. 

Von Berlin und Leipzig über Montreal, Rom und Athen bis Moskau, Sao Paulo und Taipeh.

Fabian Saul ist dort mit einem ganzen Team von Kreativen jeweils eine Straße abgelaufen, auf der Suche nach den nicht offensichtlichen Geschichten. 

Fabian Saul ist einer der Chefredakteure des Magazins. Ich habe ihn in Berlin getroffen und für die ARTE Sendung TWIST / Ausgabe 12.Juni 2022 portraitiert.

Hier das ganz Interview mit dem Schriftsteller und Musiker Fabian Saul in voller Länge:

Fabian Saul flaniert

VERSTEHST DU DICH MEHR ALS SCHRIFTSTELLER ODER ALS MUSIKER?

Die Musik war eigentlich immer schon da. Ich glaube dass Schreiben und auch die interdisziplinäre Arbeit mit vielen unterschiedlichen Künstlern am Magazin Flaneur letztendlich immer mit Musik zu tun hat weil es geht auch beim Schreiben ums Hören es geht für mich vor allem auch ums Komponieren.

Ich glaub deswegen ist das, was alles zusammenhält letztendlich die Frage nach der Komposition, dem Arrangements und damit sind wir schon in der Musik

Fabian Saul im Musikstudio

NUN KÖNNTE MAN AUCH SAGEN, DU SEIST EIN BISSCHEN ORIENTIERUNGSLOS UND WEISST NICHT WAS DU WILLST: DU TUMMELST DICH AUF VIELEN FELDERN UND KANNST DICH NICHT ENTSCHEIDEN. IST DAS SO?

Ich glaube daran, dass es unausweichlich ist, sich in diesen unterschiedlichen Feldern zu bewegen. Wenn man unter diese offensichtlichsten Schichten zum Beispiel des Textes, der Arbeit am Magazin oder der Arbeit an der Musik gelangen will.

Wir haben diesen interdisziplinären Ansatz weil es auch eine Zusammenarbeit zwischen vielen ist, die sich alle nicht auf ein Feld beschränken, sondern die zwischen den Feldern unterwegs sind.

Nur dadurch kann es uns gelingen, letztendlich auch die Strukturen aufzubrechen, ein Magazin zu machen, das anders funktioniert als Magazine funktionieren. Wir gehen von Texten aus, die vielleicht von einer anderen Literatur sprechen, vielleicht auch eine Sehnsucht nach eine anderen Literatur vermitteln. Das ist auch ein Drängen in eine andere Zukunft.

Ich glaube, der Rückgriff, der bei uns in die Vergangenheit stattfindet, hat immer mit den Fragen zu tun: Was sind die verworfenen Zukünfte, was sind die Einschreibungen, die wir nicht sehen, was ist jenseits dieser oberflächlichen ersten Schicht der Realität, die wir vielleicht als Normierung erleben, als Vereinbarung darüber wie die Welt 

ist. Aber was ist noch darunter, was ist das Unsichtbare, das Ungesagte? Um daran zu kommen, muss man sich außerhalb der engen Bahnen der nominierten Disziplin bewegen. Davon bin ich fest überzeugt.

Doppelseite ©FLANEUR MAGAZIN

GRENZT DU DICH UND DAS KOLLEKTIV; MIT DEM DU ARBEITEST VON ETABLIERTEN MEDIEN AB? POSITIONIERST DU DICH GANZ BEWUSST GEGEN TRADITIONELLE WEGE VON LITERATUR UND JOURNALISMUS?

Ich glaube nicht, dass es darum geht, sich dagegen zu positionieren. In dem Moment, in dem man gegen die großen Narrative angeht, oder anschreibt, bestätigt man sie ja eigentlich.

Viel interessanter für uns ist es, die Regeln zu ändern. Die Regeln des Erzählens, des Zusammenkommens, des Zusammenarbeitens.

Ich glaube in dem Moment verschiebt sich der Kanon, auf den man sich bezieht, es verschieben sich aber auch die Formen der Zusammenarbeit, es verschieben sich auch die Hierarchien,

Es verschieben sich all die Dinge, gegen die man sich positioniert, aber nicht indem man diese Machtposition anerkennt und sich dagegen verhält, sondern indem man eigentlich die Regeln und die Bedingungen der künstlerischen Arbeit selbst verändert.

Doppelseite ©FLANEUR MAGAZIN Ausgabe ATHEN

DU BIST ABER DENNOCH CHEFREDAKTEUR. HAST DU DAMIT NICHT AUH EINE KLASSISCHE MACHTPOSITION IM KOLLEKTIV?

Die Position des Chefredakteurs beim FLANEUR Magazin teile ich mir mit Grashina Gabelmann. Wir haben FLANEUR im Kollektiv gegründet, gemeinsam mit Michelle Philips und Johannes Conrad vom Studio Yukiko, die die Art Direktion machen und mit Ricarda Messner unserer Herausgeberin

Wir arbeiten in jeder Ausgabe immer wieder mit dreißig, vierzig Menschen zusammen, Künstler*innen, Schriftsteller*innen, Performer*innen, Architekt*innen, Philosoph*innen. Es gibt sehr viele Menschen die auch daran beteiligt sind, die nicht unbedingt auftauchen im Sinne eines Beitrages, weil eine Arbeit nicht unbedingt vom Ergebnis ausgeht, nicht von dem der Produktivität. Wir treffen nicht jemanden und sagen wir müssen am Ende etwas produzieren, sondern der Kontakt ist erst einmal offen. Manchmal passiert eine Zusammenarbeit, manchmal entstehen daraus Freundschaften, manchmal ist es etwas, was ein Produkt in dem Sinne ist, dass es ein Ergebnis gibt, aber es gibt auch vieles, das zu Ergebnissen führt, die sich nicht unbedingt manifestieren in einem Beitrag.

Doppelseite ©FLANEUR MAGAZIN Ausgabe Berlin

DIESES OFFENE UND DIESE ALTERNATIVE ZUM TRADITIONELLEN DRÜCKT SICH AUCH IN DER WISSENSCHAFT AUS, DIE DU STUDIERT HAST: KULTURWISSENSCHAFT. DIE KLASSISCHE WISSENSCHAFT WIRFT DER KULTURWISSENSCHAFT GERNE VOR, SIE SEI ALLES UND NICHTS. TRIFFT EUCH DERSELBE VORWURF AUCH IN BEZUG AUF DAS MAGAZIN FLANEUR?

FLANEUR ist ein Magazin, das sich mit einer Straße beschäftigt. Sehr oft wurde uns gesagt, dass es sich hier um eine massive Beschränkung/Begrenzung des Betätigungsfeldes handelt. Aber eigentlich ist es eine Befreiung.

Nämlich deswegen, weil man nicht an den großen Narrativen ansetzt, sondern im Fragment, im direkten Kontakt. So ähnlich glaube ich verhält sich das mit der Kulturwissenschaft. Ich muss sagen, dass das Studium  der unwichtigste Teil meiner persönlichen künstlerischen Entwicklung ist, es hat immer nur den Hintergrund geliefert. Mein Studium hat auch Methoden geliefert, war aber letztendlich nie bestimmend. Das Bestimmende war immer die konkrete künstlerische Arbeit und auch die konkrete Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Menschen, mit denen ich über diese unterschiedlichen Disziplinen in Kontakt gekommen bin.

DA SCHEINT MIR OFFENHEIT UND FREIHEIT EIN WESENTLICHER WERT ZU SEIN. WENDET IHR EUCH ALSO VOM FACHSPEZIFISCHEN TUNNELBLICK INS OFFENE AB?

Wir sprechen sehr viel darüber wie Strukturen verändert werden können, wie man systemische Probleme lösen kann. Sehr oft wird diese Arbeit daran nur simuliert. Uns geht es darum, dass wir uns auch wirklich in die Orientierungslosigkeit begeben. Wir wollen nicht wissen, was am Ende rauskommt. Wir wollen in einen offenen Prozess gehen, der wirklich ein kritischer Prozess ist

Weil auch wir nicht schon die Ergebnisse kennen, weil wir nicht von vorne herein nur simulieren, ein kritisches Projekt zu machen, aber eigentlich das Ergebnis doch schon zu kennen. Ich glaube eine tatsächlich aufrichtige, kritische Auseinandersetzung, die wir brauchen, die muss auch ergebnisoffen sein und die kann nicht produktorientiert geführt werden.

Doppelseite ©FLANEUR MAGAZIN

BEIM INGEBORG BACHMANN WETTBEWERB IN KLAGENFURT WAR ES OFT DEUTLICH ZU SEHEN, WIE UNBEHOLFEN AUTOR*INNEN VORLESEN.DIESEN EINDRUCK VON UNBEHOLFEN HAB ICH BEI DIR NICHT. LIEBST DU DAS PERFORMEN?

Da sind wir wieder bei der Musik. Weil das Interesse am Text von der Stimme herkommt und nicht vom Text selbst. Ich glaube, das ist ein anderer Ansatz, einen anderen Weg zur Literatur zu finden. Wir haben von Vielstimmigkeit im Zusammenhang mit FLANEUR gesprochen, aber auch im Zusammenhang mit unterschiedlichen Projekten wie die musikalischen Projekte „Schlechte Wörter“ zum Beispiel im Haus der Kulturen der Welt. Da geht es immer auch um Vielstimmigkeit. Das heisst, von der Stimme aus zu gehen ist ein ganz anderer Zugang zu einem Text, weil es bedeutet, dass wir Texte in musikalischen Kategorien denken, dass wir aber auch darüber nachdenken was der Text jenseits seiner Schriftlichkeit ist.

Ich glaube, dass die Zugänge zur Literatur wie jetzt zum Beispiel in Klagenfurt vor allem erzählerische sind und dass es große Missverständnisse darüber gibt, was eigentlich die Literatur verhandelt. Die Literatur beschäftigt sich nicht primär mit dem Erzähler, sondern mit der Sprachlosigkeit. 

Dem Text eine Stimme zu geben ist eine wesentliche Methode Literatur. Um über diese Form der Sprache, die als Voraussetzung Sprachlosigkeit hat, also eigentlich eine unmögliche Sprache ist, darüber in Austausch zu kommen, müssen wir von Stimmen ausgehen und nicht von Texten. 

Doppelseite ©FLANEUR MAGAZIN

Es ist ein großer Unterschied, ob wir von Stimmen sprechen und Stimmen hören, auch Texte hören, vielleicht auch Texte, die zu uns kommen weil wir sie bereits gehört haben.

Ich glaube das ist ein ganz wichtiger Zugang dieses Gefühl wo kommt diese Stimme her, woher kommt dieser Text zu mir? Das resümiert anders, als wenn es diesen Abstand gibt und wir von einem verschriftlichten Text ausgehen, der dann vorgetragen wird und der erzählt wird. An dieser Form der Erzählung bin ich nicht interessiert

SO KOMMST DU DANN AUCH ZUM GESANG?

Die Musik war immer schon da. Diese Bezüge zur Musik haben für mich damit zu tun, dass mir die Musik am ehesten mit unserer Erinnerung verknüpft scheint in den Kunstformen. Ich glaube nicht, dass wir in Erzählungen erinnern, ich glaube nicht, dass wir in Texten erinnern. Das ist eine Auseinandersetzung, die sehr stark auch für mich geprägt ist in der Zusammenarbeit und im Austausch mit Senthuran Varatharajah, der sehr viel dazu gearbeitet hat. Nämlich zu der Frage was Erinnern und Vergessen eigentlich mit der Musikqualität von Texten zu tun hat. 

Ich glaube, wir erinnern in Musik stärker als in Erzählungen. Wenn Du an bestimmte Situationen in Deinem Leben denkst, dann denkst du wahrscheinlich an einen Song, oder einen Klang, oder einen Sound, den das hat. Das ist vielleicht dichter dran an dem Zugang, wie man an diese Schichten kommt. Das Kompositionsprinzip der Erinnerung ist der Musik näher als der Erzählung.

Doppelseite ©FLANEUR MAGAZIN Ausgabe Sao Paolo

WIE WÜRDEST DU DICH VORSTELLEN? WER IST FABIAN SAUL?

Komponist vor allem, in dem Versuch, ein Erzählkonzept zu entwickeln. Ich glaube das ist das, was alles zusammenhält, was Fabian Saul so macht.

Das Schreiben, die Musik und das Editieren, die kollaborative Arbeit, das sind die drei großen Felder mit denen ich mich beschäftige. Eigentlich verbindend ist die Frage danach, ob es möglich ist eine Erzählung zu schaffen, bei der alle Einzelteile ihre Gültigkeit haben, ohne dass sie eingebunden sind in einen Plot?

Was würde das bedeuten, was wäre das für eine Erzählung, von der wir sagen, was wir erzählen ist nicht für einen Zweck, sondern steht erst mal für sich.

Wir nehmen uns ein Stück zurück und betrachten dann diese Dinge nebeneinander. Was entsteht da? Was hören wir für Stimmen zwischen diesen Einzelteilen, zwischen diesen Fragmenten und was bedeutet das für unser Erzählen, was bedeutet das für unser Vertrauen in die Erzählung? Dieses Vertrauen in die Erzählung ist eigentlich gleichbedeutend in unser Vertrauen in die gebaute Wirklichkeit, also in das was wir als Realität setzen würden, wenn wir uns hier und jetzt verständigen.

Doppelseite ©FLANEUR MAGAZIN Ausgabe Sao Paolo

Ich glaube in dem Moment, wo das erschüttert wird, dieses vielleicht falsche Vertrauen in die Realität und ein Bewusstsein dafür beginnt, wie fiktiv die Wirklichkeit ist, welche Machteinschreibungen diese Wirklichkeit zu dieser Realität gemacht haben, beginnt eigentlich ein Einbrechen von vielem was wir für selbstverständlich erachten. Wir könnten sagen ein Stolpern, wenn wir im Vokabular des Laufens sprechen würden. Wir könnten auch über das Hinterfragen von Harmonien und Disharmonien in der Musik sprechen. Wir könnten also mit unterschiedlichem Vokabular darüber sprechen, aber letztendlich ist es derselbe Prozess, nämlich das Zulassen von diesem Erschüttern, diesem Stolpern, was unsere Weltwahrnehmung grundsätzlich infrage stellt und in der plötzlich eine Vielzahl von Schichten hörbar wird, sichtbar wird und plötzlich Dissonanzen, Widersprüche, die wir akzeptieren müssen und die wir stehen lassen und denen wir ihre Gültigkeit und ihren Platz in dieser Komposition, die niemals kontrolliert wird von einer Position aus, sondern die nur entstehen kann, indem alle Teile gleichzeitig erklingen.

WARUM SPRICHT DAS FRAGMENT EINE SO GROSSE ROLLE FÜR DICH?

Wenn man den großen Narrativen nicht vertraut, sondern in die direkte Konfrontation geht, dann sind es ja sehr viele unterschiedliche Stimmen, die beteiligt sind, dann beginnt das Nachdenken über die Welt selten mit einem großen Narrativ, sondern meistens mit einer kleinen Beobachtung, mit einer Begegnung, mit einem Song, mit einer Referenz, etwas das mal gehört hat, etwas das man beobachtet hat.

Die Frage ist dann was macht man damit? Was macht man mit dieser Beobachtung? Versucht man sie einzufügen in einen Rahmen, der eigentlich schon vorher konzipiert wurde, der vielleicht aus den Narrativen kommt, die man schon gehört hat, denen man schon geglaubt hat, oder lässt man es erst mal bestehen und hört nur hin.

Ich glaube dass dieses Fragment sozusagen mehr ist als ein Kompositionsprinzip oder eine ästhetische Spielerei oder ein Arrangement, sondern dass es tatsächlich die Art und Weise wie wir einen Raum erzählen, wie wir Geschichte erzählen, komplett verändert. Weil wir eigentlich gewohnt sind, wenn wir einem Plot folgen, dass die Dinge uns irgendwo hinführen. Aber was passiert wenn die Dinge uns nirgendwo hinführen, sondern erst mal für sich stehen?

Doppelseite ©FLANEUR MAGAZIN Ausgabe Taipeh

Diese vielleicht auch sehr gefährliche Befriedigung eines aufgelösten Plots, eines harmonisierenden Plots, die wir nicht bekommen, weil was der Plot ja kaschiert, ist die Gewalt, die es bedeutet, so zu erzählen, dass alle Einzelteile einem Zweck folgen.

Was ist, wenn die Einzelteile nirgendwo hinführen?  

Das glaube ich führt zu einer tiefen Verunsicherung, egal in welcher Kunstform und egal in welchem Nachdenken und letztendlich eigentlich zu einem anderen ich würde sagen Verständnis von Erzählen und auch zu einem anderen Verständnis von Geschichte.

HAST DU DIE ABSICHT, FRAGMENTE ZUSAMMENZUFÜHREN? IM MAGAZIN WIE AUCH IN DEINEN BÜCHERN?

Es geht darum, die Fragmente nebeneinander zu stellen, nicht sie zusammen zu führen. Es geht darum, sichtbar zu machen, was wir nicht sehen, wenn wir die Fragmente nicht im Einzelnen für gültig erachten, sondern wenn wir versuchen, sie einzubinden, wenn wir versuchen sie anzugleichen.

Übrigens sind diese Dinge, mit Erzählung umzugehen mit Bruchstücken von Erzählungen, mit Charakteren umzugehen sehr ähnlich zu dem wie auch mit dem Stadtraum umgegangen wird. Das Harmonisieren von Straßenzügen, das Anpassen von Asphaltstrukturen, das Verschönern, was eine große städtebauliche Tradition im Westen vor allem seit dem 19.Jahrhundert hat und was immer kaschiert hat, wie militarisiert eigentlich der Stadtplan dahinter ist.

Wenn wir von Harmonie, Einheit, Zusammenführen und so sprechen, müssen wir sehr aufpassen, denn meistens werden diese Narrative verwendet, um Gewalt zu kaschieren

Doppelseite ©FLANEUR MAGAZIN Ausgabe Taipeh

WAS BEDEUTET DIR DAS FLANIEREN?

Wenn man Flaneur hört, wenn man flanieren hört, da gibt es einen großen nostalgischen Ballast, den diese Begriffe mit sich tragen, die schnell zurückführen ins 19. Jahrhundert. Das führt uns nach Paris, zu einem weißen männlichen Flaneur. Wenn wir die Klassenfragen mitdenken, führt uns das auch zu einer privilegierten Figur in der modernen Stadt.

Es ist wichtig zu sagen, dass das FLANEUR Magazin auch meine Beschäftigung mit den vielfältigen Methoden wie zum Beispiel Psychogeographie und Flanieren umfasst, diese aber auch weiterführen. Es geht vor allem darum, sich zu verständigen über unterschiedliche Stadtwahrnehmung.

Es geht nicht um diese eine Figur, die gesetzt wird als Flaneur, sondern es geht vor allem um die Technik des Flanierens. Die Technik der Psychogeographie und letztendlich auch einfach darum, dass wenn wir uns darüber verständigen wie wir Räume wahrnehmen, dass wir dann schnell auch in einen sehr surrealen Bereich kommen. Unsere Erinnerungen, unsere Wahrnehmung des Raums ist überhaupt nicht so harmonisiert und einheitlich wie wir das vielleicht glauben.

Doppelseite ©FLANEUR MAGAZIN

Ich denke, dass grundsätzlich unser Ansatz eigentlich die Frage ist :

Gibt es die Möglichkeit, sich über unsere sehr vielen, unterschiedlichen Weltwahrnehmungen auszutauschen im Sinne einer Solidarität miteinander. Wenn wir uns anfangen darüber auszutauschen wie wir die Welt wahrnehmen, ist das nicht eigentlich ein surrealistisches Konzept der Solidarität, den der Surrealismus verpasst hat?

Es geht bei alldem nicht um die Betätigung, nicht darum, etwas Erbauliches zu erschaffen, es geht nicht um Müßiggang und um Schwelgerisches. Nicht um das Regenerative eines Sonntagsspaziergangs, sondern es geht um eine kritische Praxis. 

Es geht um eine kritische Praxis, die wenn sie angewandt im Kollektiv letztendlich immer darauf aus ist, Gewissheiten zum Einsturz zu bringen.

Dinge, Erzählkonzepte anders zu denken, d.h. es ist eine Technik, die für mich eigentlich eine andere Zukunft verhandelt

Doppelseite ©FLANEUR MAGAZIN

WAS IST DENN DER UNTERSCHIED ZWISCHEN FLANIEREN UND SPAZIERENGEHEN?

Spazieren ist etwas Erbauliches, eine bürgerliche Betätigung die letztendlich dafür da ist, dass es Auszeiten gibt, um sich danach wieder in das produktive Geflecht der Gesellschaft eingliedern zu können. Das Flanieren kann tatsächlich an die dunklen Orte, an die unsichtbaren Schichten der Stadt, an die Widerständigkeit des Raums führen. Das ist letztendlich eine Bewegung, in der der Raum zurück spricht.

Das bedeutet, das ist ein Prozess. der nicht kontrollierbar ist, der nicht unbedingt produktiv ist, sondern der vor allem mit Verunsicherung und dem Einsturz von Gewissheiten zu tun hat.

IST FLANIEREN DEMNACH EINE SUBVERSIVE PAXIS?

Ja, das ist eine subversive Praxis. Wenn wir sie so denken, wie wir es im Magazin FLANEUR denken, dann ist es eine machtkritische Praxis.

WAS DARAN IST SUBVERSIV?

Dass es darum geht, die oberste sichtbare Schicht der gebauten Wirklichkeit zu unterwandern. Wir versuchen, was nur im Kollektiv möglich ist, andere Zeitschichten und andere räumliche Schichten zu aktivieren, sichtbar zu machen und zu zeigen, dass das was vermeintlich nebeneinander liegt nicht immer nebeneinander liegt.

Die Verbindung innerhalb unserer Raum- und Zeitstrukturen sind sehr viel komplexer als es uns die Erzählung des Raums mit der wir vielleicht konfrontiert werden, wenn wir uns den Raum im Sinne einer Stadtführung erschließen, also im Sinne eines etablierten Narrativs.

Doppelseite ©FLANEUR MAGAZIN Ausgabe Sao Paolo

Ich glaube da tut man sehr gut daran, nicht dem zu vertrauen, was in dieser obersten Schicht eingeschrieben ist. Denn das ist auch eine sichtbar gemachte Schicht mit Machteinschreibung.

Es gibt viele verworfene Zukünfte, es gibt viele Stimmen, die nicht hörbar, die nicht sichtbar sind. Um die geht es, das könnte man in dem Sinne Benjamins begreifen, dass es Geschichtskonzepte gibt, die immer von den Unsichtbaren, von den Unterdrückten, von den Vergessenen, von den Verratenen ausgeht und nie von denen, die ohnehin schon im Raum erzählen, nie von der dominanten Schicht der Gesellschaft aus.

WENN DU, WIE GERADE GESCHEHEN 50 KILOMETER DIE PERIPHERIQUE VON PARIS ENTLANG LÄUFST, GEHST DU VON A NACH B, ALSO LINEAR VOR. WIDERSPRICHT SICH DAS NICHT MIT DEINEM ANSATZ DES FRAGMENTARISCHEN, NICHTLINEAREN?

Dabei ging es mir darum, einen Ort, an dem wir schon seit zwei Jahren arbeiten, in unterschiedliche Verhältnisse zu setzen. Das ist dann so wie wenn man die Bahn nimmt und dann eben noch einmal den gleichen Weg läuft.

Grundsätzlich geht es ja bei dem Misstrauen dem Linearen gegenüber auf der einen Seite um diese räumliche Linie, die vielleicht eine Straße suggeriert, die aber dann wenn du plötzlich anfängst zu verstehen, dass dort mehr stattfindet als das was erst mal offensichtlich sichtbar ist, dass da plötzlich andere Dimensionen aufgehen, andere Zeitschichten erfahrbar werden, andere Stimmen zu hören sind. Da ist letztendlich diese Frage nach der Linie vor allem eine Frage nach der Erzählung. Mein Misstrauen dieser Erzähl-Linie gegenüber hat mehr damit zu tun als mein Misstrauen dem Plot gegenüber, nämlich dass die Dinge auf etwas hinauslaufen und dass es dort ein Ziel gibt. 

Das ist auch eine andere Arbeitsmethode, Menschen zu begegnen. Wir begegnen Ihnen in aller Offenheit, ohne Intention oder schon das Ergebnis kennen zu wollen. Das ist eine andere Annäherung ein anderes Kennenlernen, als wenn wir aus einer letztendlich Komodifizierung heraus das Produkt, das Ergebnis schon kennen würden. Auch das ist eine Linearität, die wir akzeptieren und mit der wir leben.

Fabian Saul flaniert

IST VIELLEICHT DAS PLANLOSE UND DAMIT AUCH DAS FEHLEN EINES PLOTS DAS SPANNENDE AM FLANIEREN?

Ja. Es geht darum, dass die Impulse für die Entscheidung letztendlich aus dem Raum kommen und von den Menschen, denen man begegnet  und nicht aus der eigenen Planung heraus. D.h. es ist immer wieder ein Prozess der von vorne beginnt.

WIE BESCHREIBST DU DAS MAGAZIN FLANEUR?

Das Magazin ist eine Plattform, auf der Kollaborationen zwischen unterschiedlichen Künstler*innen stattfinden können, die sich sehr häufig nur über diesen Anlass, dass wir uns mit einem Ort ganz konkret, mit einem Mikrokosmos beschäftigen, miteinander in Kontakt kommen. 

Das Magazin ist kein Selbstzweck, sondern bildet einen monatelangen Prozess der Zusammenarbeit ab. Der Anlass ist eine Straße, ein Mikrokosmos, wohin das führt ist offen.

FLANIERST DU GANZ PRIVAT AUCH?

Die Arbeit am Buch, die mich jetzt seit acht Jahren begleitet und an dessen Wegesrand eigentlich unterschiedliche FLANEUR Ausgaben liegen, ist eigentlich eine Arbeit daran, die Frage zu stellen wie unterschiedliche Orte, an denen ich gearbeitet habe, miteinander zusammenhängen? Das behandele ich als offene Frage und immer unter dem Gesichtspunkt, dass jede einzelne Stimme jede einzelne Geschichte jede einzelne Ort seine Berechtigung hat.

WORUM GEHT ES IN DEINEM NEUEN BUCH „DIE TRAUER DER TANGENTE“?

Mir ist aufgefallen, dass ich persönlich während der Arbeit an diesem Magazin Geschichten des Wiederstands gesammelt habe, unterschiedliche Formen, in denen Menschen den geltenden Machtstrukturen sich widersetzt haben, zu unterschiedlichen Zeiten, aus unterschiedlichen Gründen. 

Ich hab mich irgendwann gefragt, wie hängen diese Geschichten zusammen und was bedeutet das für unser Geschichtsverständnis,  auch für mein Verständnis von Erzählung? Was passiert eigentlich, wenn ich versuche, diese Geschichten zu erzählen, unter der Prämisse, dass sie alle ihre Gültigkeit haben, nebeneinander stehen und dass ich nicht versuche sie zusammenzuführen und sie zu einer Erzählung zu machen und sie nach meinen Vorgaben zusammenzubringen, sondern sie nebeneinander zu stellen und gewissermaßen zwischen den Zeilen zu hören?

Doppelseite ©FLANEUR MAGAZIN

Von welcher Welt erzählen diese Geschichte des Widerstands, die da zusammengeführt werden? Von welcher Zukunft gehen Sie aus? Was ist eigentlich die Möglichkeit an all diesen Räumen, an all diesen Orten und was sind die verhinderten Möglichkeiten, von denen diese Geschichten erzählen? Das ist der erzählerische Zusammenhang, der erzählerische Versuch meines im Herbst 2022 erscheinenden Buches „Die Trauer der Tangente“.

WIE SOLL DER VERLAG DAS PROMOTEN?

Das überlasse ich dem Verlag

EIN LIEBESROMAN?

Natürlich! Letztendlich wenn wir uns die Frage der Solidarität stellen, nämlich dass all das gültig ist, da geht es natürlich um Liebe und um nichts anderes. Aber natürlich ist es nicht der Liebesroman von dem Deine Frage jetzt vielleicht handelt. Es ist auch die Frage nach Liebe als einer Form der Solidarität. 

Was bedeutet es eigentlich, wenn an einem Ort die Stimmen der Vergessenen, der Verratenen, der Verdrängten wiederauferstehen, wenn wir sie plötzlich hören können und wir durch den Raum gehen und uns mit den Toten bewegen, die plötzlich da sind. Ist das nicht eine Form der Liebe?

IST DAS EIN ROMAN?

Es ist ein Roman!

EINE FIKTION?

Ja, eine Fiktion.

WOBEI DU JA EIN GANZ EIGENES VERSTÄNDNIS VOM BEGRIFF FIKTION HAST!

Ja, aber wir können uns nicht außerhalb dieser Fiktion bewegen.

GIBT ES KEINE REALITÄT?

Wenn wir uns darüber auseinandersetzen wie Räume erzählt werden und Geschichten erzählt werden, dann sind wir im Bereich der Fiktion.

WIRD DAS BUCH PROMOTET ALS ROMAN DES CHEFREDAKTEURS DES MAGAZIN FLANEUR?

Das überlasse ich dem Verlag

WÄRE DIR DAS RECHT?

Ich glaube es hängt zusammen, aber ich glaube es hat im Lauf der Jahre auch woanders hingeführt. Ich glaube, dass dieses Buch noch woanders hinführt als das Magazin das tut. Der Versuch des Buches ist der Versuch, diese Orte zusammen zu denken.

WERDEN AUCH DIEJENIGE DEIN BUCH MIT GEWINN LESEN, DIE SICH FÜR SPAZIERGANGSWISSENSCHAFT INTERESSIEREN?

Ja

WARUM?

Weil das ein Zugang ist, ein Weg, um an solch ein Verständnis von Erzählung und von Geschichte zu gelangen. Es ist eine Methode, aber erschöpft sich nicht in sich selbst.

Ich hab kein Interesse am Flanieren als eine Methode, die ihrer selbst wegen immer wieder inszeniert wird, sondern letztendlich glaube ich, dass es ein Weg ist, ein Zugang sein kann, den wir im Rahmen des Magazins in ganz unterschiedlicher Form und in ganz unterschiedlichen Disziplinen gemeinsam wählen. Ein Ansatz, sich mit einem Raum zu konfrontieren in der ganzen Offenheit was das bedeutet

Wenn es nicht unser Erzählen verändert, wenn es nicht unsere Weltwahrnehmung verändert, dann sehe ich nicht warum diese Methode hilfreich sein könnte. Ich bin nur an diesen Methoden interessiert, wenn Sie uns von einer anderen Zukunft erzählen.

ICH BIN GESPANNT WIE SICH DIESE ZUKUNFT ABBILDEN WIRD BEI DIR! VIELEN DANK FABIAN SAUL!