„Ich entschied mich für eine Erektion“
Interview , geführt von Stefan Hochgesand im Feuilleton der Berliner Zeitung vom 19.März 2025
Der Regisseur Tim Lienhard über seinen neuen Film, Queers auf Gran Canaria und darüber, ob die Insel das bessere Berlin ist

„Grotesk sexualisiert“: Tim Lienhard liebt es, in Drag zu performen. Foto: © 101movie GmbH
„Berlin gilt als Ort der großen überhaupt? Filmemacher und Dragqueen Tim Lienhard hat auch andere Erfahrungen gemacht, abseits von seinen Lieblingsclubs wie KitKat und Berghain: In Berlin wurde er schon auf offener Straße geschlagen. In Drag-Montur steigt er lieber nicht in Öffis. Taxifahrer weigern sich, ihn mitzunehmen. In Spanien, speziell auf Gran Canaria, sei man sehr viel toleranter, sagt er. Nicht zuletzt deshalb hat er einen Film über die Insel, ihre Queers und sich selbst gedreht: „Wenn nichts mehr geht, dann Gran Canaria“.“

Screenshot aus „Wenn nichts mehr geht, dann Gran Canaria“ Foto: © 101movie GmbH
Herr Lienhard bei Drag denken viele an Lipsync-Performances von Männern, die sich als ultrafeminine Frauen aufdonnern. Sie sind da ein anderer, vielleicht ein neuer Typus Drag-Queen, oder?
Mein Look ist einzigartig. Er hat nichts mit Drag Performance zu tun, sondern mit Clubkultur. Besonders exaltierte Wesen meiner Generation nannten sich Ende der achtziger Jahre „Clubkids“. Das waren junge Kreative, die sich fantasievoll gestylt haben, nicht um auf eine Bühne zu gehen, sondern um als „Walking Acts“ den ganzen Club zur Bühne zu machen.
Leigh Bowery war der berühmteste von ihnen. Ihm widmet gerade eines der bedeutendsten Museen der Welt (Tate Modern London) eine eigene Ausstellung . Ich habe Filmausschnitte mit ihm in meinem Film, die ich kurz vor seinem Tod Ende der Neunzigerjahre gedreht habe. Ich sehe mich in der Tradition von ihm und nicht als missglückter Versuch, Ru Paul nachzueifern.
Wie werfen Sie sich in Schale? Wie aufwendig ist das, und welche Utensilien benötigen Sie?
Mein Drag ist inzwischen ein unverwechselbares Markenzeichen. Dadurch dass ich zwei durchsichtige Halbkugeln aus Plastik auf meine nackten Brüste schnalle. Außerdem zeige ich selbstbewusst, dass ich ein Mann bin, teilweise explizit im Schritt.
Ich sitze nicht stundenlang vor dem Spiegel für ein perfektes Make-up, sondern mein Motto ist „lieber schlecht geschminkt und gut gelaunt, statt perfektes Make-up und mies drauf.“
Ich brauche keinen halben Tag in der Maske und habe dennoch eine super Ausstrahlung wie eine in die Jahre gekommene Filmdiva. Meinen Look nenne ich „grotesk sexualisiert“.

Arbeitsfoto zu „Wenn nichts mehr geht, dann Gran Canaria“ Foto: © 101movie GmbH
In welchen Berliner Clubs kann man Sie in Drag antreffen? Wie reagieren die Leute?
Am liebsten gehe ich in den KitKatClub. Manche sehen in mir eine Ikone dieses Clubs. Vielleicht auch, weil es einmal eine Kampagne gab, wo die Betreiber des Clubs mit meinem bunten Look darauf aufmerksam machen wollten, dass die Gäste nicht immer nur in schwarzen Fetischklamotten kommen sollen.
Das Kitkat ist wirklich ein Safe Space, ein Paradies für Hedonisten wie mich. Gelegentlich gehe ich auch ganz gerne ins Berghain.
Die Reaktionen auf meinen Look sind immer fantastisch. Ich werde mit Komplimenten überhäuft. Es sind vor allem meine Plastikbrüste, die im wahrsten Sinne des Wortes herausstechen. Auch weil sie so hybrid sind. Synthetic Fetisch. Ich sage immer: Plastic surgery statt für 7.000 für 6,99 €.

Screenshot aus „Wenn nichts mehr geht, dann Gran Canaria“ Foto: © 101movie GmbH
Ihr Film „Wenn nichts mehr geht, dann Gran Canaria“ ist ein Experiment, nämlich sowohl ein Porträtqueerer Expats auf der Insel als auch ein Selbstporträt. Wie kam es dazu?
Wir leben in zunehmend restriktiven Zeiten. Unsere erkämpften Freiheiten als queere Menschen sind wieder deutlich bedroht. In Berlin kann ich es mir nicht erlauben, öffentliche Verkehrsmittel zu nehmen, selbst auf der Straße wurde ich in Drag schon geschlagen. Umso größer empfinde ich die Freiheit auf der ausgesprochen toleranten Insel Gran Canaria, wie überhaupt in Spanien. Spanien hat nicht ohne Grund gerade erst den Spitzenplatz belegt im Ranking queerfreundlicher Länder. Da es in meinem Film um Freiheit im weitesten Sinne geht, persönliche Freiheit, die man sich nehmen muss, um so sein zu können, wie man glaubt, zu sein, aber auch um die Freiheit, die einem die Gesellschaft einräumt oder eben nicht, finde ich Gran Canaria geradezu ein Synonym für Freiheit.
Sie wollten der Insel huldigen?
Ich wollte ein Loblied auf die große Toleranz der Spanier singen, denn dort fühlte ich mich noch nie so bedroht und gefährdet wie in Berlin .
Ich dekonstruiere durchaus kokett das Vorurteil, dass im Alter nichts mehr geht … Ursprünglich war der Ansatz zum Film, Menschen zu porträtieren, die im gehobeneren Alter nach Gran Canaria fliehen, um sich dort nochmal auszuleben. Während der Entstehung des Filmes merkte ich plötzlich wie viel das mit mir selbst zu tun hat. Und während der Postproduktion war das Bedürfnis derer, die diese begleitet haben, sehr groß, noch mehr über mich persönlich zu erfahren. Dadurch nehme ich in dem Film einen viel größeren Raum ein, als ich das ursprünglich geplant hatte. Und ich zeige gerne, dass noch ganz schön viel geht, wenn vermeintlich nichts mehr geht.

Arbeitsfoto zu „Wenn nichts mehr geht, dann Gran Canaria“ Foto: © 101movie GmbH
Sehen Sie sich als Exhibitionisten? Und hat das vielleicht etwas damit zu tun, dass in Ihrer Jugend auf dem Dorf eine solche Selbstentfaltung unmöglich gewesen wäre?
Ob ich ein Exhibitionist bin, frage ich mich ganz explizit im Film. Insbesondere meine Selfie Shootings haben eindeutig exhibitionistische Züge. Da stehe ich in der Tradition des französischen Künstlers Pierre Molinier.
Ich trage keinen Mantel und erschrecke keine Passanten, sondern ich zeige stolz eine hybride Konstruktion aus Mensch, Plastiktitten, Kunsthaar und männlichem Genital. In einem performativen Sinn, spielerisch und künstlerisch. Ich will nicht verschrecken, sondern verführen.
Und das tun Sie ganz körperlich?

Screenshot aus „Wenn nichts mehr geht, dann Gran Canaria“ Foto: © 101movie GmbH
Die Szene mit Roy im Film, in der sich Roy komplett entkleidet, findet nicht nur im Einvernehmen statt, sondern in einer gleichen Gesinnung, weil wir uns beide gerne nackt zeigen.
Dass ich eines Tages auf großer Leinwand mein Höschen runterlasse, hätte ich mir als verklemmt aufgewachsener Teenager in der Provinz der siebziger Jahren nicht träumen lassen. Ehrlicherweise habe ich aber genau davon geträumt.
Wie haben Sie die Queers im Film kennengelernt? Was hat Sie an ihnen fasziniert, und wie haben Sie sich ihnen filmisch genähert?
Im Film tauchen ein Dutzend Protagonisten auf. Da sind zum einen zwei Freunde, die Wesentliches beitragen zur Beschreibung meiner Drag Person. Der Pornodarsteller und OnlyFans Creator Robert Royal und der berühmte Filmemacher Rosa von Praunheim. Wie Sie mich sehen und meinen Look beschreiben, ist hochamüsant. Dann wirken meine beiden sehr jungen Assistenten mit. Zwei bildhübsche, 23-jährige Jungs, die während der Dreharbeiten von mir auch vor die Kamera geführt wurden, was gar nicht geplant war. Sie machen sich ausgesprochen gut, denn sie sind ein Pendant zu den anderen Protagonisten auf der Insel, allesamt ältere Männer, Crossdresser und eine Transfrau. Diese habe ich während unserer Drehzeit auf Gran Canaria kennen gelernt und für die Mitwirkung im Film gewinnen können. Drag schafft Vertrauen.

Arbeitsfoto zu „Wenn nichts mehr geht, dann Gran Canaria“ Foto: © 101movie GmbH
Im Film wird klar, dass Gran Canaria ein Ort der Freiheit für diese Menschen ist. Über Berlin sagt man das auch. Was ist der Unterschied? Ist Gran Canaria wie Berlin am Meer?
Berlin am Meer… Das wäre schön ! Weit gefehlt! Berlin ist eine gespaltene Stadt: Auf der einen Seite ist sie hochgefährlich für queere Menschen, vor allem im öffentlichen Raum, auf der anderen Seite bietet sie die freizügigsten Räume weltweit. Das aber sind geschlossene Räume, so genannte Safe Spaces. Wie das Kitkat und das Berghain und einige andere Clubs. In Berlin weigern sich immer wieder Taxifahrer, mich mitzunehmen, obwohl sie mich doch vor einem Nachtclub und nicht vor einer Kirche oder Moschee antreffen. Auf Gran Canaria kann ich vom Landesinneren bis ans Meer unbeschadet unterwegs sein und werde freundlich auch von Taxifahrern aufgenommen.

Screenshot aus „Wenn nichts mehr geht, dann Gran Canaria“ Foto: © 101movie GmbH
Ein wichtiger Ort im Film ist das Yumbo-Center in Maspalomas: Am Eingang befindet sich eine Moschee. Drin sind gut 200 Läden, davon 80 Prozent queere Bars und Diskos. Was ist das für ein krasser Ort? Woher kommt die Toleranz in Spanien?
Das Yumbo Center ist ein Phänomen. Ich habe mir sagen lassen, dass es einzigartig auf der Welt sei. So viele queere Lokale konzentriert an einem Ort. Böse gesagt, könnte man das ein Ghetto nennen, tatsächlich ist es aber der größte offene Safe Space, den ich kenne.
Die Toleranz der Spanier hat nicht nur damit zu tun, dass sie profitabel ist. Denn bekanntermaßen geben insbesondere schwule Konsumenten sehr viel Geld aus und sind damit für die Tourismusindustrie eine finanzkräftige Zielgruppe. In Spanien herrschte Franco, ein General und Diktator bis in die Siebzigerjahre hinein. Die Spanier haben 40 Jahre lang eine Diktatur ertragen müssen und zum ersten Mal 1977 in freien Wahlen ein Parlament gewählt! Meiner Meinung nach gründet vor allem in dieser höchst restriktiven Erfahrung von Unterdrückung und Diktatur die daraus folgende und immer noch überzeugt gelebte Toleranz. Möge sie anhalten! Gegen den Rest der Welt, der sich wieder für Generäle und Diktatoren begeistert.

Arbeitsfoto zu „Wenn nichts mehr geht, dann Gran Canaria“ Foto: © 101movie GmbH
Ihr Film wurde zum Teil von Festivals abgelehnt, weil er sehr explizit ist. Er ist FSK 18, man sieht Erektionen. Warum war Ihnen das wichtig, mit dem Risiko, dass Sie dadurch Publikum verlieren könnten?
Dass Festivalmacher so prüde sind, wegen Erektionen meinen Film abzulehnen, hätte ich nicht gedacht. Dass ich etwas wage, indem ich inszenierte Erektionen zeige, war mir bewusst. Dies tat ich aber nicht, um zu provozieren und schon gar nicht, um zu schockieren. Davon abgesehen finde ich alles, was in meinem Film pornographisch anmuten mag, sehr ästhetisch. Ich entschied mich dafür, ehrlich zu sein.
Ehrlichkeit bedeutet auch, dazu zu stehen, dass insbesondere in der schwulen Partywelt Sex eine übergeordnete Rolle spielt. Ein Protagonist im Film sagt, dass er auf Gran Canaria „die Sau rauslassen kann“. Wie soll ich das bebildern?
Sie arbeiten schon lange als Kulturjournalist fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen. Mussten Sie sich limitieren, eher Mainstream-Themen bedie
Ich entschied mich für eine wunderbare, inszenierte große Erektion in den Dünen.
Schade wäre, wenn ich wegen FSK 18 Festival-Publikum verlieren würde. FSK18 könnte sich aber auch verkaufsfördernd auswirken. Darauf spekuliert habe ich jedoch nicht .
Weichgespülte, weinerliche Dokumentationen über queere Opfer, hübsche Coming of Age Stories mit schwulen Pin ups in Speedos gibt es zuhauf!
Diese mutige Geschichte einer Selbstermächtigung eines lebensfrohen, 64 jährigen Mannes, der in Drag Party macht und schamlos seine Freiheit lebt, ist doch mal was Neues!
Mein Film ist fern von jeder woken Ideologisierung und Moralisierung. Es ist ein sinnenfroher, unterhaltendere Film eines geilen, alten, weißen Mannes.

Arbeitsfoto zu „Wenn nichts mehr geht, dann Gran Canaria“ Foto: © 101movie GmbH
Sie arbeiten schon lange als Kulturjournalist fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen. Mussten Sie sich limitieren, eher Mainstream-Themen bedienen als sexuell aufgeladen Queres?
Ich arbeite seit 40 Jahren für das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Aus eigener Erfahrung behaupte ich, dass die ARD und insbesondere der WDR, bei dem ich meine Erfahrungen vor allem gemacht habe, alles andere als wirklich offen für queere Themen ist . Schon gar nicht für explizitere Stoffe, wie ich sie in meinem Film verhandele. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen werden fast ausschließlich Klischees bedient. Das hat nichts mit Ehrlichkeit und schon gar nichts mit Offenheit und Freiheit zu tun. Das ist ganz im Gegenteil genau das, was diese Scham fördert, mit der ich mich in meinem Film auseinandersetze. Es mag im Fernsehbusiness überraschend viele Exhibitionisten geben, die aber würden sich niemals öffentlich zu erkennen geben. Öffentlich-rechtliches Fernsehen hat sich für mich als ein Bestätigungsapparat erwiesen, nicht als ein Forum, offener Bekenntnisse , oder als ein Medium, das den Blickwechsel provoziert. Schon gar nicht für Wagnisse, erst recht nicht für queere Wagnisse.

Arbeitsfoto zu „Wenn nichts mehr geht, dann Gran Canaria“ Foto: © 101movie GmbH
Sie selbst waren lange skeptisch, was Gran Canaria angeht. Ihre jungen Assistenten berichten davon, wie sexualisiert die Insel sei. Auch von Drogenabsturz ist die Rede. So ganz bedingungslos Gute-Laune-Insel ist Gran Canaria wohl doch nicht?
Freiheit kann auch Grenzenlosigkeit bedeuten. Selbstverständlich schließt Freiheit Exzesse nicht aus. Das gilt ganz grundsätzlich für alles und überall weltweit. Es liegt in der Verantwortung von jedem selbst, wie er Freiheit nutzt, oder ob er Freiheit missbraucht. Worauf es aber ankommt: dass wir uns die Chance für Freiheit einräumen!
ANMERKUNG : In der Berliner Zeitung waren nur zwei Fotos abgedruckt. Die Fotos in dieser Strecke ergänzte ich selbst. (Berlin, den 25.März.2025)